Ralf Gnosa freier Schriftsteller und Literaturwissenschaftler


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Grundsätzliches über Nachdichtungen

Grundsätzliches zum Thema Nachdichtungen


Seit vielen Jahren reizt mich die Herausforderung, Gedichte aus der englischen Sprache nachzudichten. Dies ist vor allem eine formale, eine technische Herausforderung, nicht zuletzt, da die deutsche Sprache viel silbenreicher ist als die englische. Man nehme z.B. einen Kurzvers von William Blake: "My thoughtless hand" - "Meine gedankenlose Hand"; schon unbestimmte Artikel oder Personalpronomina bringen den Nachdichtenden regelmäßig in Nöte. Dennoch muß das Ziel jeder Gedichtübersetzung auch formale Treue sein. Die Übersetzung eines Gedichts ist eben etwas qualitativ anderes als das Übersetzen von Prosa, sie kann sich nicht mit bloßem Übersetzen begnügen, sondern muß immer nachdichterischen Anspruch erheben, will sie nicht schon im Grundsatz verfehlt sein.
Gerade diese einen oft der Verzweiflung nahe bringenden Schwierigkeiten reizen mich an dieser Arbeit. Vers für Vers ringt man um adäquate deutsche Entsprechungen. Man verbeißt sich in einen Text und jeder erfolgreiche Vers ist ein Glücksmoment - und entpuppt sich nicht selten kurz darauf als Holzweg, als unbrauchbar im Gesamtgewebe des Gedichts. Inwieweit insgesamt eine Nachdichtung eines fremdsprachlichen Gedichts überhaupt gelingen kann, bleibe dahingestellt. Es ist ein unausgesetztes Bemühen und es ist auch ein Tun, das seinen Lohn in sich selbst trägt. Und es ist natürlich eine Liebeserklärung an ein Gedicht...!
Keine Nachdichtung wird je ein Original ersetzen können. Das wird auch nie ihr Ziel sein. Sie hat ihren Eigenwert als selbständiger dichterischer Text, nicht jedoch im Sinne einer philologischen Übersetzung. Eine solche ist nicht möglich. Als bloße Lesehilfe mögen Prosa- oder Interlinearübersetzungen ausreichen, die sich aber dem Gedicht als solchem verweigern, da ihnen eben gerade das Wesentliche einer Dichtung fehlt. Sie haben eher Kommentarfunktion und werden das - sind ihre Verfasser ehrlich - auch immer einbekennen.
Ich halte es für richtig, mit Nachdichtungen auch den Originaltext zu veröffentlichen, damit die Leser das Verhältnis beider Texte zueinander betrachten und bewerten können - im Falle englischsprachiger Gedichte ganz besonders, da diese Möglichkeit heute fast jedem Leser in zumindest gewissem Maße gegeben ist. Bei Gedichten aus dem Albanischen, Neugriechischen, Arabischen, Chinesischen oder aus skandinavischen oder slawischen Sprachen usw. könnte man vielleicht darauf verzichten bzw. einzelne Proben bringen, die einen Eindruck vom Sprachklang geben könnten. Im Falle englischspachiger Gedichte sollte man dies m.E. aber generell tun. Alexander von Bernus, also eine gewichtige Stimme, hat diese Praxis abgelehnt und ein gutes Argument dafür vorgebracht: ihm scheint es eine Relativierung des künstlerischen Eigenwertes der vorgelegten Nachdichtung, wenn sie nicht ohne Verweis auf die Vorlage bestehen könne: "Umdichtungen sind keine Pons, sondern Selbstzweck, und ihnen das Original gegenüberzustellen, ist künstlerisch eine Entgleisung." (Bernus im Nachwort von "Das irdische Paradies" Nürnberg: Hans Carl 1947, Bd. 1, S. 212-215, hier: S. 215). Gerade die Betonung dieses künstlerischen Eigenwertes führt mich jedoch zum gegenteiligen Urteil: die Nachdichtung ist nicht das Original; sie ist aber auf das Tiefste mit diesem verbunden. Man denke an Kontrafakturen, Variationen oder auch Parodien, die stets ihren Eigenwert haben, aber ohne Kenntnis ihrer Vorlagen für den Leser nur z.T. verständlich werden; und selbst, wenn dieses Verständnis weitgehend möglich sein sollte, geht dem Leser ohne diese Kenntnis ein wesentlicher Genuß verloren. So besteht auch eine Nachdichtung als eigenes dichterisches Kunstwerk, bleibt jedoch immer auf ihre Vorlage bezogen. Sie will diesen Bezug, sie verleugnet ihn nicht - im Gegenteil: sie provoziert geradezu den Blick auf das Original und muß sich dem kritischen Vergleich stellen - wobei Bernus' Vorschlag, Original und Nachdichtung in zwei Bänden zu veröffentlichen, eine plausible Kompromißlösung bietet. Denn bei allem eigenständigen Kunstwert bleibt doch immer die Tatsache bestehen, daß eine Nachdichtung scheitern kann - und zwar anders scheitern als eine "Originaldichtung", scheitern nämlich im Vergleich zur Vorlage. Sie muß sich insofern der Überprüfung stellen. Sie ist auch durch sachlich-fachliche Kritik u.U. verbesserungsfähig.
Dies umreißt den Hintergrund meiner nachdichterischen Bemühungen, die in erster Linie, ja, fast ausschließlich dichterische Bemühungen sind, nicht philologisch-übersetzerische. Ich bin kein Anglist; my spoken English is terrible; mehr als ein relativ bescheidenes Schulenglisch bringe ich leider nicht mit. Ohne Wörterbuch hätte ich kaum eins der Gedichte nachdichten können. Darin liegt natürlich immer eine mögliche Fehlerquelle und für Hinweise kundiger Leser auf mutmaßliche Fehler bin ich dankbar.
Der Arbeitsprozess ist etwa folgender: ein Gedicht spricht mich an. Voraussetzung ist hierfür eine metrisch faßliche Formgebung. Natürlich gibt es großartige Gedichte, die diese nicht aufweisen - etwa "The Heart" von Stephen Crane oder die Dichtung von Robinson Jeffers in ihren prosanahen, aber unglaublich rhythmischen Langversen, die vielleicht das Bedeutsamste ist, was die USA im 20. Jahrhundert hervorgebracht haben. Ohne das Gerüst der Form fühle ich mich jedoch nicht befähigt, eine Dichtung nachzugestalten, es reizt mich auch weniger. Es ist leichter und schwerer zugleich: leicht machen es sich da wohl viele, schreibend wie nachdichtend, die einfach auf Formgebung verzichten. Die haben rein nichts kapiert. Schwer wird es dann, wenn man die genuine Form des scheinbar formlosen, da nicht metrisch gefügten Textes, seine "immanente Form", wie ich es gerne nenne, zu bewahren versucht. Dies ist oft sicherlich schwieriger, als ein Sonett adäquat nachzudichten. Sehr gerne würde ich Jeffers ins Deutsche bringen; mir scheint, daß neben den Übersetzungen von Eva Hesse und Kai-Michael Gustmann noch sehr gut Platz für weitere deutsche Nachdichtungen ist: so groß ihre Verdienste um Jeffers in Deutschland auch sind - über fünfzig Jahre ist sie für ihn eingetreten! - die Übersetzungen Hesses überzeugen oft nur teilweise, zu oft "verbessert" sie Jeffers, wird bisweilen preziös, was nun gerade zu Jeffers aufgerauhten Versen überhaupt nicht stimmen will. Vielleicht versuche ich mich mal am wenig bekannten, formal traditionelleren Frühwerk... und arbeite mich dann weiter vor...?
Die ersten Arbeitsschritte sind dann die formale Bestimmung und die Ermittlung fehlender Vokabeln. Dann beginnt die übersetzerische Arbeit, die meist in einzelnen Versen ansetzt, die sich auf Deutsch einstellen; von da aus geht es nachdichterisch weiter. Über mehrere Fassungen - z.T. reimlos, mit einem Versfuß zu viel oder Leerzeilen - gelangt man schließlich zu einem Endtext, der bei mir in der Regel ein relativer Endtext bleibt. Selbst beim Eintippen der Versuche in den Rechner, die durchwegs handschriftlich am Text und auf Notizzetteln erfolgen, stellt sich oft noch die eine oder andere kleine Änderung ein. Es bleibt meist an irgendeiner Stelle ein gewisses Ungenügen, also ein Verbesserungsbedarf.
Vorhandene Nachdichtungen ziehe ich in der Regel erst vergleichend am Schluß hinzu, um mir zunächst einen unvoreingenommenen Blick zu bewahren, dann jedoch mögliche Fehler zu eliminieren. Selten schlage ich bei Stellen, an denen ich partout keine überzeugende Lösung finde, gezielt bei früheren Autoren nach - oft stellt sich dann freilich heraus, daß bereits diese sich an "schwierigen Stellen" mit "Notlösungen" beschieden haben; bisweilen läßt sich so aber auch ein schlichter Verständnisfehler ausräumen.
Zu den hier mitgeteilten Nachdichtungen liefere ich jeweils kurze, zwanglose Kommentare - zum Autor, zu den speziellen Reizen des Gedichts, die mich - reizten; aber auch zu spezifischen Problemen der jeweiligen Nachdichtungen oder ggf. mir selbst bewußten Unzulänglichkeiten. Dazu nenne ich mir bekannte Verdeutschungen, um Vergleiche zu ermöglichen.
Nicht wenige Gedichte haben über ein Jahrzehnt Inkubationszeit benötigt, um ihre - mir zumindest halbwegs gültig erscheinende - deutschsprachige Gestalt zu finden, z.B. das so schlichte Gedicht von Yeats ("When you are old"); andere, wenige wiederum fanden sehr flüssig ihre deutschsprachige Gestalt. Über die Qualität von Dichtung und Nachdichtung sagt dies nichts aus. Es liegt an der Dichtung, am Nachdichter, am Miteinander von Dichter, Nachdichter und Text, aber auch am Kairos. Oft quält einen ein einziger Vers ewig lange - und mit einem mal ist er da. Oft ist ein ganzes Gedicht in einem Rutsch da, beglückend; am nächsten Tag aber streicht man fast alles durch und beginnt von vorn...
Kurz zur Auswahl: von manchen Autoren kenne ich nicht viel mehr als das nachgedichtete Gedicht oder nur dieses eine hat mich berührt - das gilt etwa für Southey, MacDonagh, Holden, Monro u.a.; in anderen Fällen habe ich eine tiefe Zuneigung zum Schaffen des Dichters insgesamt gefaßt - dies gilt besonders für Ernest Dowson und Conrad Aiken, von denen einmal eine größere deutsche Auswahl vorzulegen ein großer Wunsch von mir ist - hier spielen also "missionarische Bestrebungen" mit hinein. Unbekanntes wird vermittelt. Dies gilt natürlich nicht, wenn man Yeats oder Shakespeare nachdichtet, allgemeine Notwendigkeit rechtfertigt dieses Unterfangen nicht. Hier ist der Reiz des Gedichts entscheidend, der Wunsch des Nachdichters, es in seiner Sprache nachzugestalten - und vielleicht tritt man bisweilen auch ein wenig in einen (nach-)dichterischen Agon mit Kollegen anderer Zeiten: von Shakespeares berühmtem "Sonett 66" gibt es so zahlreiche Verdeutschungen, daß man sogar eine Anthologie herausgegeben hat - eine wunderschöne Idee, durch die ich mich freilich geradezu provoziert fühlte, NOCH eine mehr zu verbrechen... mea culpa...
Natürlich gibt es auch Gedichte, deren Nachdichtung unmöglich scheint - immer noch hoffe ich z.B., einmal Dowsons berühmtes "Cynara"-Gedicht verdeutschen zu können; vielleicht auch Arthur O'Shaughnessys "We are the music-makers" (Julius Bab hat einen tapferen, schönen, aber m.E. nicht genügenden Versuch unternommen); aber ein Gedicht wie das wunderbare "Shapes and signs" von James Clarence Mangan in eine deutsche Sprachgestalt zu bringen, das scheint mir einfach unmöglich - in dieser Meinung widerlegt zu werden, das wäre ein großer Glücksmoment! Vielleicht, wer weiß, gelingt es irgendwann, irgendwem, vielleicht gar mir selbst. Ich wüßte derzeit freilich noch nicht, wie.
Denn so sehr jede Nachdichtung auch verbissene Arbeit, auch Fleißarbeit ist, ein "Rezept" habe ich für mich nicht finden können. Liebe zum konkreten Gedicht, Fleiß, Bemühen und Gnade spielen hier wohl immer zusammen.
Nachdichtungen sind nun einmal so unkalkulierbar wie das Leben. Und sie sind Liebeserklärungen an Gedichte.




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