Ralf Gnosa freier Schriftsteller und Literaturwissenschaftler


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John Keats: When I have fears - Wenn ich erbebe

John Keats (1795-1821) - When I have fears

When I have fears that I may cease to be
Before my pen has glean'd my teeming brain,
Before high-piled books, in charact'ry,
Hold like full garners the full-ripen'd grain;

When I behold, upon the night's starr'd face,
Huge cloudy symbols of a high romance,
And feel that I may never live to trace
Their shadows, with the magic hand of chance;

And when I feel, fair creature of an hour!
That I shall never look upon thee more,
Never have relish in the faery power
Of unreflecting love! - then on the shore

Of the wide world I stand alone, and think,
Till Love and Fame to nothingness do sink.


John Keats - Wenn ich erbebe

Wenn ich erbebe, ich könnt sterben, eh'
Mein Stift des fruchtbarn Hirnes Ernte faßt,
Eh' Bücherberge, eng bedruckt, ich seh,
Wie Speicher bergend reifen Kornes Last;

Wenn großen Werks Symbole ich seh glühn,
Den Wolken gleich, am Sterngesicht der Nacht,
Und fühl, daß ihren Schatten nachzuziehn
Wohl meiner Hand die Zeit nicht zugedacht;

Und fühl ich, Lichtgeschöpf du einer Stunde!
Daß ich nie wieder dürfte auf dich sehn,
Daß nie ich an der Zaubermacht gesunde
Gramloser Liebe - einsam muß ich stehn

Am Strand der weiten Welt und grübeln dann,
Bis Ruhm und Liebe ganz ins Nichts verrann.



Ein Interesse an Keats muß man wohl nicht begründen, eher vielleicht die Tatsache, den vielen vorliegenden Nachdichtungen eine weitere hinzugefügt zu haben. Aber das erklärt sich aus der Freude am Nachgestalten eines Gedichtes, das einen berührt.
An Keats' große Oden habe ich mich nicht gewagt (es gibt einige beachtliche Versuche, etwa von Alexander von Bernus, Edward Jaime oder Heinz Piontek), aber seine Sonette sind verlockend, sind unwiderstehlich.
Das vorliegende Sonett mutet visionär an: Keats litt an der in seiner Familie verbreiteten Tuberkulose, er starb früh, er starb zudem im Bewußtsein, verkannt zu sein - ich habe vor über zwanzig Jahren an seinem Grab auf dem Protestantischen Friedhof in Rom gestanden; damals kannte ich wohl nur das Reclam-Heft von Heinz Piontek. Aber es war ein seltsames Gefühl, vor diesem Grab mit seiner eigenartigen, bitteren, mit seiner unvergeßlichen Grabschrift zu stehen: "Here lies one, whose name was writ in water" - ja, in diesem bitteren Bewußtsein mußte einer der bedeutendsten Dichter seiner Zeit sterben. Seine Liebe zu Fanny Brawne blieb unglücklich; die Krankheit verschlimmerte sich und zwang ihn nach Italien, vielleicht zu seinem Glück, da er dort als Gast Shelleys in bessere Kreise kam, menschlich und dichterisch - denn die heimische Kritik hatte ihn geradezu verhöhnt, bis hin zum Vorwurf, Dichtung sozial niederer Herkunft zu schreiben, "cockney poetry"; den Hohlkopf, der das losgelassen hat, möchte man heute noch in den Hintern treten (seinen Namen wollen wir hier verschweigen!). Unbegreiflich, wie man bei Keats' Verskunst auf diesen Gedanken kommen konnte...
Keats dichte Bildsprache ist nicht leicht nachzubilden. Visionäre Bildkraft - die Szene der Schlußverse etwa ersteht vor dem inneren Auge des Lesers - ist mit Abstraktion kombiniert; sowas geht leicht einmal schief - bei Keats funktioniert es! Ich denke, ich habe die Nachdbildung einigermaßen geschafft, zwar bisweilen um den Preis einer etwas freieren Nachgestaltung, die aber m.E. stets dem Geist des Originals entspricht.
Es gibt eine Menge Nachdichtungen dieses Sonetts, man findet es in den Ausgaben von Heinz Piontek (1925-2003) (Keats: "Gedichte" Stuttgart: Reclam 1981, S. 40), Edward Jaime (1907-1965) (Keats: "Sonette und Oden" Köln: Balduin Pick 1946, S. 21) und Alexander von Bernus (1880-1965) ("Das irdische Paradies. Bd. 2: John Keats" Nürnberg: Hans Carl 1947, S. 62); ferner in Anthologien verdeutscht von Hans Hennecke (1897-1977) (Ders.: "Englische Gedichte von Shakespeare bis W.B. Yeats" Berlin: Gustav Kiepenheuer 1938, S. 109); Siegfried Schmitz (*1931) (Ders. (Hrsg.): "Lyrik der englischen Romantik" München: Winkler 1967, S. 188f.); Richard Flatter (1891- 1960) (in: Levin L. Schücking (Hrsg.): "Englische Gedichte aus sieben Jahrhunderten" Leipzig: Dieterich 1956, S. 217); Heinrich Pabst (Ders.: "Die Nacht hat vieler Augen Licht. Nachdichtungen englischer Lyrik" Hannover: Richard Beeck 1947, S. 60f.), Walter Schmiele (1909-1998) (Ders.: "Englische Dichtung deutsch" Darmstadt: Eduard Roether 1949, S. 107f.) und Gisbert Kranz (1921-2009) (Ders.: "Englische Sonette" Stuttgart: Reclam 1981 (2., verb. Aufl.), S. 121); diese Liste wäre wohl leicht zu verlängern...



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