Ralf Gnosa freier Schriftsteller und Literaturwissenschaftler


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Lascelles Abercrombie: Epitaph - Grabschrift

Lascelles Abercrombie (1881-1938) - Epitaph

Sir, you should notice me: I am the Man;
I am Good Fortune: I am satisfied.
All I desired, more than I could desire,
I have: everything has gone right with me.
Life was a hiding-place that played me false;
I croucht ashamed, and still was seen and scorned:
But now I am not seen. I was a fool,
And now I know what wisdom dare not know:
For I know Nothing. I was a slave, and now
I have ungoverned freedom and the wealth
That cannot be conceived: for I have Nothing.
I lookt for beauty and I longed for rest,
And now I have perfection: nay, I am
Perfection: I am Nothing, I am dead.

Lascelles Abercrombie - Grabschrift

Herr, nehmet meiner wahr: ich bin der Mensch;
Ich bin das Glück: ich bin zufrieden nun.
Was ich begehrt', mehr als begehrn ich konnt',
Hab ich: denn alles ging nach meinem Wunsch.
Das Leben - ein Versteck, das mich betrog;
Geduckt in Scham, und doch gesehn, verhöhnt,
Werd ich nun nicht gesehn. Ich war ein Narr,
Weiß jetzt, was Weisheit nicht zu wissen wagt:
Denn ich weiß Nichts. Ich war ein Sklave, jetzt
Hab unregierte Freiheit ich, Reichtum
Nicht auszudenken: denn ich habe Nichts.
Ich suchte Schönheit, ich ersehnte Ruh,
Und jetzt hab ich Vollendung: nein, ich bin
Vollendung: ich bin Nichts, ich bin tot.


Über Lascelles Abercrombie weiß ich nicht viel und kenne auch nicht viel von ihm. Er gehörte vor dem Ersten Weltkrieg zum Kreis der Dymock Poets, hat dann eine akademische Karriere gemacht, lehrte an den Universitäten Leeds, Liverpool, London und Oxford und veröffentlichte mehrere dichtungstheoretische Bücher, in den letzten Jahren schwerer Krankheit abgerungen. Als Dramatiker und Lyriker scheint er bald nach dem Krieg verstummt zu sein; sein lyrisches Werk umfaßt wohl vorwiegend längere Blankversdichtungen, die ich nicht kenne.
Aber sein kleines "Epitaph", sozusagen ein "Blankvers-Zwerg", sprach mich an - "Sir, you should notice me" - ja, ich nahm Notiz. Die 14 Zeilen - im Umfang also genau einem Sonett entsprechend - sind vollendete Poesie; Poesie allerdings einer besonderen Art, die oft unterschätzt wird. Abercrombies "Epitaph" ist Gedankendichtung; schon das ist relativ unpopulär - der Dichter hat gefälligst zu singen, am besten so wie der Vogel auf dem Baum; und wenn er schon meint, Gedichte entstünden höchst selten, sie würden gemacht, wie Gottfried Benn es so schön formulierte, dann möge er doch solch rhythmisch schöne und bei aller Intellektualität sinnliche, atmosphärische und melancholische Gebilde "machen", wie wir sie von Benn besitzen. Es spricht nichts dagegen, das funktioniert. Es ist aber nur ein Weg unter anderen. Dem Gedicht Abercrombies wird man mit solch einer Erwartungshaltung jedenfalls kaum gerecht werden können.
Das Verfassen solch einer intellektuell zugespitzten Grabschrift erinnert an die barocke Dichtungstradition. Inwieweit dies von Abercrombie intendiert ist, weiß ich nicht; er scheint ein gebildeter Herr gewesen zu sein - und daher ist es sehr anzunehmen. Ein ungereimtes Grabschrift-Sonett in Blankversen, so könnte man die Form des Gedichts prägnant und paradox umschreiben (ein "Ungereimbtes Sonett" als technische Spielerei gibt es übrigens im deutschen Spätbarock bei Christian Gryphius, dem Sohn des großen Andreas). Die genretypische "poetische Grabschrift" des Barock bewegt sich allerdings meist im Rahmen eines Epigramms (Wulf Segebrecht gab eine nette Anthologie "Poetische Grabschrtiften" 1987 als Insel-TB heraus).
Abercrombie stellt sein Gedicht offenbar sehr bewußt in diese Traditionszusammenhänge, sichert ihm aber darin zugleich eine sehr eigenständige Position.
Der Blankvers stellt m.E. eine lyrische Minimalform dar. Er ist leicht zu handhaben, Reimnot und Reimzwang stellen sich nicht ein, im fünffüßigen Vers läßt sich recht zwanglos allerlei unterbringen, ohne andauernd zu gar zu schiefen Inversionen gezwungen zu werden; zugleich ist er wiederum kurz genug, um Leerlauf zu vermeiden, der sich nicht selten einstellt, wenn lange Alexandriner befüllt werden müssen. Es ist kein Zufall, daß sich der Blankvers als klassischer Dramenvers durchgesetzt hat, daß auch Gelehrte gerne den Blankvers wählten, als es noch nicht ehrenrührig war, seine Erkenntnisse und seinen Wissensstand in Lehrgedichten auszubreiten (könnte nicht ein Germanist mal eine gute Literaturgeschichte in Blankversen vorlegen? einen satirischen Versuch von Friedrich Gundolf in Knittelversen gibt es ja immerhin...).
Als genuin lyrischer Vers ist er selten gewählt worden. Wahrscheinlich dürfte im Deutschen Schiller der erste sein, der dies in großem Stil versucht hat und damit auch sichtbar wurde - aber auch hier hat man es mit gemeinhin als eher "unlyrisch" empfundener Gedankendichtung zu tun. Vielleicht war der Blankvers den Lyrikern, die ja zuerst und zuletzt Formkünstler sind, zu schlicht? Selbst schlichte, gereimte Volksliedstrophen scheinen variabler und klangreicher, und dem Wunsch nach reimlosen Gedichten entsprachen eher komplizierte Odenformen oder Hexameter. Erst in der Moderne hat sich das etwas geändert.
Welche Möglichkeiten aber auch der schlichte Blankvers bieten kann, führt Abercrombie in seinem "Epitaph" vor, denn er liefert hier auch ein furioses Formkunststück. Die meist kurzen, geradezu abgehackten Sätze geben dem Gebilde etwas extrem Gedrängtes, das Antithetische, das das zuvor Gesagte Widerrufende in diesem Gedicht läßt den Text unter einer ungeheuren Spannung beben. Mir fällt auf Anhieb nur ein vergleichbares Gedicht ein: etwa ein Jahrhundert früher hat Clemens Brentano ein in der deutschen Literatur wohl vergleichsloses Sonett geschrieben, "Über eine Skizze: Verzweiflung an der Liebe in der Liebe", in dem sich kurze, antithetische Feststellungen förmlich jagen. Dagegen bewegt sich Abercrombie auf eher klassischen Bahnen. Seine Dynamik ist keine primär emotionale Erschütterung, sondern sie ist antithetisch-intellektuelles Spiel mit der furchtbaren Daseinstatsache Tod. Die Antithese Leben - Tod steht permanent hinter diesem Gedicht - und das Leben kann nur verlieren. Das Gedicht klingt im letzten Vers in den Dreiklang "perfection - Nothing - dead" aus, der das Leben in jeder Hinsicht hinter sich läßt. Dieses intellektuell-antithetische Spiel ist ein ernstes Spiel, ein im Wortsinne toternstes Spiel.
Man sollte meinen, ein Blankverspoem sei recht leicht nachzudichten. Das ist in der Regel natürlich auch so - an virtuosen Kunstreimereien wie Thomas Moores "Oft in the stilly night" etwa, an Villanellen, strengen Sonetten usw. beißt man sich weit mehr die Zähne aus! Aber Abercrombies "Epitaph" hält trotzdem Stolperfallen bereit. Drei Kleinigkeiten seien hier angeführt:
Vers 2 ist nicht gut verdeutscht; das überständige "nun" am Versende stört im Grunde; ansonsten fehlte jedoch eine Hebung und der Vers würde mit einer weiblichen statt der im Gedicht üblichen männlichen Kadenz schließen. Der Vers mußte also gefüllt werden, was innerhalb der knappen Feststellungen noch weniger angängig ist. Eine Notlösung. (N.B.: Ich habe in diesem Gedicht oft zwischen "jetzt" und "nun" geschwankt, wo es "now" zu übersetzen galt. "Jetzt" erhielt insgesamt den Vorzug, da sein härterer Klang besser zum Duktus des Gedichts paßt; lediglich an zwei Stellen ließ ich "nun" stehen, wo die weichere Fügung angemessener schien).
Sieht man vom eine Akzentverschiebung erfordernden Wort Reichtum in Vers 10 ab, was einmal hingehen mag, findet sich dann im folgenden Vers 11 ein ernsteres Problem: Abercrombie setzt mit "Nothing" ein einziges Mal eine weibliche Kadenz ans Versende; "Nothing", mit Majuskel und dreifach in der zweiten Gedichthälfte vorkommend, ist ein Schlüsselwort. Hier ist guter Rat teuer. Die mit "Ich" beginnenden Satzkonstruktionen sind konstitutiv für das Gewebe dieses Textes und Inversionen sollten daher hier vermieden werden, soweit es möglich ist. "Nichts" sollte am Versschluß stehen. Es bleibt dem Nachdichter nichts anderes übrig, als zähneknirschend hier die weibliche in eine männliche Kadenz zu normalisieren... mea culpa.
Zum Dritten und Letzten: der letzte Vers. Dieser letzte Vers ist einer der absolut mustergültigen Verse, von denen zu sagen ist: jedes Wort steht unverrückbar fest an seinem Ort. Ein absoluter, ein totaler Vers! Eine Änderung ist nicht möglich, eher noch hackt man sich Hände oder Füße ab (cf. Josef Weinheber: "Einem einzigen Vers zuliebe / hätt ich Aug und Hand gegeben"). Nun hat aber Nothing zwei, Nichts dagegen nur eine Silbe. Daran ist nichts zu machen. Anders als in Vers 2 scheint mir hier keine Lockerung der knappen, präzisen Diktion durch ein Füllwort vertretbar. "Vollendung. Ich bin nun Nichts. Ich bin tot." oder "Vollendung. Ich bin Nichts. Ich bin nun tot." - nein, es sträuben sich einem die Haare... Auch "Ich bin Nichts nun. Ich bin tot." verwässert, obwohl es sogar metrisch eine korrekte Lösung wäre. Dieses "nun" steht als "jetzt" ja auch bereits im vorangehenden Vers. Mir scheint die von mir gewählte Version das deutlich geringste Übel. Natürlich führe ich einen Spondeus ein, den Abercrombie nicht hat. Mir scheint diese Abweichung aber vertretbar, da der harte Spondeus gut in die Struktur des Textes paßt, ihm damit also keine Gewalt getan wird - anders als etwa mit einem munter hüpfenden Daktylus... Mir scheint, meine Lösung ist zwar nicht richtig, aber durchdacht, begründet und somit vertretbar.
Und wenn nicht, dann muß ich wohl ins Fegefeuer...


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